Projektbeschreibung
Moderne Gesellschaftskritik beginnt mit Karl Marx und muss sich über die Herkunft dieser Spur aufklären. Das Forschungsprojekt will eine solche Aufklärungsarbeit leisten; in seinem Zentrum steht daher die Frage nach der Geburt und Formierung der Marxschen Gesellschaftskritik. Um diese Frage zu beantworten, folgt das Forschungsprojekt einer an Foucault orientierten, genealogischen Blickperspektive auf die von Marx vollzogene Kritik. Es begreift diese Kritik im Wesentlichen als eine Aktivität, eine gesellschaftliche Praxis vor dem Hintergrund eines spezifischen Erfahrungsraumes (soziale Kämpfe, Bewegungen) und ausgestattet mit einer spezifischen Wissensform (historischer Materialismus; historische, soziale Wissenschaft), die die Gesellschaft als eine antagonistisch gespaltene artikuliert. Ausgehend von dieser Artikulation verwandelt sich die Marxsche Kritik grundsätzlich: von einer vormals philosophisch-kritischen Aktivität in eine performative, parteiliche Praxis diesseits der klassenantagonistischen Frontstellung. Sie transformiert sich zu dem, was Marx selbst die „Kritik im Handgemenge“ genannt hat. Dieser Modus der Ausübung von Kritik rechnet immer mit einem Gegner, den es zu schlagen, zu treffen gilt; er begreift sich immer schon innerhalb einer Konstellation von Auseinandersetzungen, bei denen letztlich der Moment radikaler Umwälzung zu einer „klassenlosen Gesellschaft“ auf dem Spiel steht.
Die bisherige internationale Marxforschung hat diesen Modus der Ausübung von Kritik bisweilen zwar zur Kenntnis genommen, ihn aber weder genau untersucht noch in Verbindung gebracht zu den beiden Kritiksprachen, die die Forschung bisher dominierten: die normative Kritik einer entfremdeten Lebensform (der frühe Marx) und die wissenschaftliche Kritik einer kapitalistischen Vergesellschaftung durch den „Wert“ (der späte Marx). Das Forschungsprojekt hat sich nun vorgenommen, diese Forschungslücke zu schließen. Es wird das Auftauchen und die Praxis der Kritik im Handgemenge entlang von drei unterschiedlichen Phasen des Marxschen Oeuvres rekonstruieren. In der ersten Phase geht es um ausgewählte Schriften, in denen sich der neue Kritikmodus formiert (1845-1852); in der zweiten Phase soll dieser dann in ausgewählten journalistischen Arbeiten von Marx für die New York Tribune (1852-1862) analysiert werden; schließlich wird in der dritten Phase die Kritik im Handgemenge innerhalb des Kapital und anderer zeitgleich entstandener politischer Texte (1864-1875) offengelegt. Auf allen drei Analyse- und Arbeitsfeldern stellt sich die gleiche genealogische Frage: Wie und auf welche Weise tritt hier die Kritik im Handgemenge in Erscheinung? Wer ist ihr Gegner, wer soll getroffen werden, was steht auf dem Spiel? Damit will das Forschungsprojekt nicht nur einen Beitrag zum Begriff der Gesellschaftskritik bei Marx, sondern darüber hinaus eine Aufklärung moderner Gesellschaftskritik über sich selbst leisten.